Die republikanischen Dämme brechen
http://www.nzz.ch/nachrichten/internati ... 26558.htmlA. R. - Zuerst traf es traditionsreiche Investmenthäuser, dann taumelte der grösste Versicherungskonzern der USA, und schliesslich musste eine ganze Reihe vermeintlich stabiler Banken Staatshilfe in Anspruch nehmen. Nun deutet alles darauf hin, dass die amerikanische Finanzkrise noch ein weiteres Opfer fordern wird – den republikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain.
Im Abwärtssog der Krise
Die Umfragewerte des Senators sind zwar nicht im selben Ausmass abgestürzt wie die Kurse an der Wall Street. Aber McCains Popularitätskurve zeigt eine auffallende Parallelität zu den Geschehnissen an der Wirtschaftsfront. Bis zur Eskalation der Finanzkrise Mitte September lieferte McCain seinem demokratischen Gegenspieler Barack Obama noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen, befand sich zeitweise gar im Vorsprung. Seither ging es mit ihm fast nur noch bergab. Im Durchschnitt der neusten Umfragen führt Obama nun mit gut 6 Prozentpunkten. Ein Wettbüro in Irland hat ihn bereits zum Sieger erklärt und eine Fotomontage veröffentlicht, auf der Spediteure Obamas Möbel ins Weisse Haus tragen. Erwähnenswert ist aber auch eine andere Fotografie, diesmal eine echte, aus dem Jahr 1948. Sie zeigt den lachenden Präsidenten Harry Truman, der eine Zeitung mit der fetten Schlagzeile «Dewey defeats Truman» hochhält. Die Meinungsforscher waren sich damals so sicher, dass Truman die Wahl verlieren würde, dass die besagte Zeitung geglaubt hatte, dessen Niederlage schon vor dem Ende der Auszählung melden zu können. Auch McCain sollte man nicht vorschnell abschreiben, denn dem kämpferischen Politiker ist schon manches verblüffende Comeback gelungen.
«Linke Sintflut»?
Trotzdem wäre es eine riesige Überraschung, wenn sich Obama jetzt den Sieg noch entreissen liesse. Bis zum Wahltag dauert es nur noch zweieinhalb Wochen. Im letzten halben Jahrhundert ist es nie vorgekommen, dass ein Präsidentschaftskandidat in derart kurzer Zeit einen solchen Vorsprung verspielte. Wohl nur ein handfester Skandal, ein Terrorakt oder etwas Ähnliches wären in der Lage, die Dynamik dieses Rennens noch zu ändern. Solche Eventualitäten sind nicht auszuschliessen, sind aber nicht gerade wahrscheinlich. Obamas Stellung ist noch stärker, als es die nationalen Umfragen andeuten. Denn am Wahltag zählen ja nicht die landesweit abgegebenen Stimmen, sondern die Resultate in den einzelnen Gliedstaaten. Auf dieser Ebene kommt die Notlage der McCain-Kampagne erst recht zum Vorschein. Dem Republikaner bläst in mehreren Staaten, die vor vier Jahren noch für George Bush gestimmt hatten, ein kalter Wind entgegen. In Iowa und Virginia beispielsweise liegt er weit zurück; brisant ist das deshalb, weil ein Wechsel dieser beiden Staaten ins demokratische Lager ausreichen würde, um Obama zum Gesamtsieg zu verhelfen. Kein Wunder, dass das Kandidatenduo McCain / Sarah Palin diese Woche Virginia besuchte. Dass sie überhaupt um einen Staat kämpfen müssen, der in den letzten zehn Präsidentenwahlen stets republikanisch gestimmt hat, illustriert ihre prekäre Lage. Unter Republikanern macht sich Ernüchterung breit. Karl Rove, der Architekt der Wahlsiege Bushs, hat errechnet, dass Obama beim jetzigen Stand des Rennens auf mindestens 313 Elektorenstimmen käme und damit die für den Sieg nötige Mindestzahl von 270 spielend erreichen würde. Plötzlich ist die Rede von einem möglichen Erdrutschsieg – ein ungewohnter Gedanke, nachdem die letzten beiden Wahlen überaus knapp ausgegangen sind. Hinzu kommt die Erwartung, dass die Demokraten auch die Kongresswahlen gewinnen und ihre Mehrheiten in beiden Kammern ausbauen werden. Das würde einem Präsidenten Obama die Chance eröffnen, seine Reformvorhaben einigermassen frei von republikanischen Blockadeversuchen umzusetzen. Düster warnte dieser Tage ein konservativer Kommentator vor der «linken Sintflut», die sich über Washington ergiessen werde.
Eine unerwartete Prüfung
Noch vor einem Monat war das Rennen ausgeglichen gewesen. Die Gründe für den abrupten Umschwung sind vielfältig, aber sie haben fast alle mit den Turbulenzen an der Wall Street zu tun. Erstens wischte die Finanzkrise Dinge in den Hintergrund, die Obama belastet hatten: seine aussenpolitische Unerfahrenheit, seine zweifelhaften Freundschaften, seine intellektuelle Abgehobenheit. Von nun an dominierte das Thema Wirtschaft und damit ein Bereich, in dem die Wähler den Demokraten seit langem mehr vertrauen als den Republikanern. In der drohenden Not verfangen die sozialpolitischen Hilfsversprechen Obamas besser als McCains Warnungen vor übertriebenem Staatsinterventionismus oder sein Ruf nach tieferen Unternehmenssteuern. Zweitens geriet der Republikaner als Vertreter der Regierungspartei zwangsläufig in die Defensive. Bush gilt inzwischen als der unbeliebteste Präsident seit dem Beginn des Umfragezeitalters. Obwohl sich McCain nicht mehr gemeinsam mit dem Amtsinhaber blicken lässt und ihn sogar vom Wahlkonvent der Partei ausgeladen hatte, vermag er sich nicht völlig von ihm zu distanzieren. Drittens wurde die Finanzkrise zu einem Test der präsidialen Fähigkeiten, und McCain ist dabei durchgefallen. Zwar brilliert auch Obama nicht mit finanzpolitischer Kompetenz, aber zumindest erweist er sich als der begabtere Kommunikator und macht mit seiner kühlen Gelassenheit die bessere Figur. McCain überspielte seine Ratlosigkeit mit Aktivismus, reiste mit grossspurigen Ankündigungen in die Hauptstadt, nur um dann von den Ereignissen überrumpelt zu werden. Bis heute wirkt der Senator in der Finanzkrise orientierungslos. Er schwankt zwischen populistischen Vorschlägen für Staatseingriffe und Bekenntnissen zur Marktwirtschaft, was letztlich nur eine alte Erkenntnis bestätigt: Anders als in der Sicherheitspolitik, wo McCain mit Gradlinigkeit überzeugt, fehlt ihm in der Wirtschaftspolitik ein klarer Kompass. Viertens hat die Krise den Republikanern ein klassisches Argument aus der Hand genommen: Der Vorwurf, die Demokraten hätten blindes Vertrauen in den Staat als Problemlöser, ist heute nicht mehr sehr zugkräftig. Schliesslich hat die republikanische Regierung in der Krise selber massiv interveniert und dabei auch ordnungspolitische Sünden begangen, etwa mit Staatsbeteiligungen an Banken, die solche Hilfen gar nicht benötigen. «Big Government» ist heute das Markenzeichen beider Parteien. Dazu kommt, dass die von Obama vorgeschlagenen Ausgabensteigerungen im Lichte der Krise plötzlich anders betrachtet werden. Aus Furcht vor einer neuen Depression werden keynesianische Ausgabenprogramme zur Ankurbelung der Wirtschaft wieder salonfähig.
Realitätsferne
Während sich die Folgen der Finanzkrise für die Wahl vom 4. November abzeichnen, sind die Auswirkungen auf die nächste Präsidentschaft noch unabsehbar. Schon vor den jüngsten Erschütterungen hatten die Kandidaten Wunschdenken verbreitet und Luftschlösser gebaut. Mit der Krise hat sich dieses Übel nur noch verschärft. Wie wild werfen Obama und McCain mit milliardenschweren Initiativen um sich, wobei jeglicher Sinn für das Mögliche abhandenkommt. In drei Fernsehdebatten verweigerten sie eine ernsthafte Antwort auf die Frage, wo sie angesichts der neuen Lage Abstriche an ihren Zielen machen würden. Realismus wird wohl erst nach der Wahlschlacht einkehren. Der nächste Bewohner des Weissen Hauses wird dann den Schrott seiner Wahlkampfrhetorik beiseiteräumen und Prioritäten setzen müssen. Zu befürchten ist allerdings, dass er bis dahin bereits ein Gefangener seiner Versprechen sein wird.